Transformational POP: Die „Identitäre Bewegung“ als juvenil-urbane Kulturrevolution von rechts

Dieses Essay untersucht die ideologischen Hintergründe der Verbindung von Kultur und Politik, auf die die rechtsextreme Identitäre Bewegung in Deutschland Bezug nimmt und wie sie von rechten Akteur*innen eingesetzt und weiterverwertet werden. Im Zentrum steht die Frage, welche Transformationsprozesse dabei angestoßen werden und ob – oder wie weit – eine Kulturrevolution „von rechts“ in Deutschland stattfindet. Zunächst werden die ideologischen Stammväter der Identitären Bewegung, Alain de Benoist und Henning Eichberg, eingeordnet, um dann die Geschichte der Identitären Bewegung seit den Nullerjahren aufzuzeigen. Final wird anhand popkultureller Beispiele analysiert, wie Pop – und Popmusik – von rechtsextremem Aktivist*innen gerahmt und ideologisch gezielt eingesetzt wird.

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 „Die zentrale politische Frage des 21. Jahrhunderts lautet nicht: Wer sind wir?, sondern Zu wem können wir werden?“   (Hall 2018, 184)

Kulturrevolution von rechts [1]

Alain des Benoist ist einer der zentralen ideologischen Stammväter der Identitären Bewegung in Europa: „War die traditionelle extreme Rechte Frankreichs parlamentsorientiert, so zeigte sich diese Neue Rechte betont diskursorientiert. Auch über die Zeitschrift der FEN, ‚Europe Action‘, wur­den strategische Grundlagenschriften vorgestellt und in den Gruppen diskutiert. So erschien in der Ausgabe vom August 1963 der Aufsatz ‚Qu’est-ce qu’un militant?‘ (‚Was ist ein Aktivist?‘) eines gewissen Fabrice Laroche, hinter dem sich niemand anderes verbarg als Alain de Benoist, bis heute der Cheftheoretiker der Nouvelle Droite. Als schmale Broschüre erfährt der Beitrag bis auf den heutigen Tag ebenso immer neue Auflagen wie die aus dem Jahr 1962 stammende Grundsatzschrift ‚Pour une critique positive‘ von Dominique Venner, der zentralen Figur aus der Generation der Väter des FEN.“ (Cremet 2007).

Alain de Benoist verfasste zahlreiche Artikel und Bücher über den Zusammenhang von Kultur und Politik. Ihm ging es darum, den Begriff der „kulturellen Macht“ herauszuarbeiten. „Ich pochte auf die Rolle der Kultur als bahnbrechendes Element politischer Veränderungen: ein deutlicher Politikwechsel zementiert einen Wandel, der auf sittlichen und geistigen Gebiet bereits stattgefunden hat“. (Benoist 2014, 146). Alain de Benoist sprach von Metapolitik – mit Verweis auf den kommunistischen Philosophen Antonio Gramsci. Allerdings ignorierte er dabei die gesellschaftliche Sinnstruktur, für die der antifaschistische Revolutionstheoretiker seine Gedanken entwickelt hatte – diese demagogische Interpretationsmethode ist geradezu charakteristisch für die Neue Rechte in Frankreich und heute auch in Deutschland. 

Jüngstes Beispiel für die rechte „Diskurspiraterie“ ist das Buch Marx von rechts von Benedikt Kaiser, Alain de Benoist und Diego Fusaro, 2018 im Antaios Verlag veröffentlicht. Marx soll aus seinem aufklärerisch-universalistischen Denkzusammenhang für das völkische Projekt der Gegenaufklärung uminterpretiert werden (vgl. meine SWR-2-Rezension: Sendung vom 19.10.2018 15:55 Uhr, SWR2 Lesenswert Kritik). 

Alain de Benoist, Jahrgang 1943, engagierte sich bereits Ende der 1950er Jahre als Jugendlicher in nationalistisch rechten Kreisen. In seinem erstmals 1983 veröffentlichten Buch Kulturrevolution von rechts fabulierte er von einer Hauptbedrohung, die es zu bekämpfen gelte.

„Es ist das fortschreitende Verschwinden der Vielgestaltigkeit der Welt. Die Nivellierung der Menschen, die Reduktion aller Kulturen auf eine ‚Weltzivilisation‘ baut auf dem auf, was am allgemeinsten und gewöhnlichsten ist. Schon sieht man von einem Ende des Planeten zum anderen denselben Typ von Bauten emporragen, dieselben Denkgewohnheiten Fuß fassen.“ (Benoist 2018, 55).

Der Autor zeichnete das Bild einer „grauen Welt“, mit der er damals in den Jahren des Kalten Krieges der 1980er Jahre nicht die Architektur im Ostblock meinte, sondern die US-amerikanisch geprägte Konsumkultur. In den Kriegen der Gegenwart stünden sich nicht mehr Nationen gegenüber, sondern

„[…] eine differenzialistische Art und eine universalistische Art. Eine antiegalitaristische Art und eine egalitaristische Art. Eine Art, die eine organische Gesellschaft anstrebt, auf der Grundlage und Herrschaft einer immer größeren Vielgestaltigkeit, und eine Art, die eine mechanische Gesellschaft anstrebt, in der eine immer größere Homogenität herrschen würde“ (Benoist 2018, 57).

Es ist sinnvoll, mit Norberto Bobbio, dem italienischen Rechtsphilosophen, die Begriffe Links und Rechts kategorial zu unterscheiden, gerade weil Ideologen der Identitären Bewegung wie Martin Sellner hin und wieder behaupten, weder links noch rechts zu sein.

„Wenn man sagt, die Linke sei egalitaristisch und die Rechte nicht-egalitaristisch, bedeutet dies durchaus nicht, daß man, wenn man zur Linken gehören will, die Maxime ausruft, dass alle Menschen gleich in allem seien, unabhängig von jeglichem Unterscheidungsmerkmal, denn das wäre nicht nur eine utopistische Vision, sondern, viel schlimmer, ein Satz, dem man keinen vernünftigen Sinn beilegen kann.“ (Bobbio 2004, 77)

Bobbio betonte: „[D]ie Menschen sind untereinander so gleich wie sie ungleich sind. Sie sind gleich unter bestimmten Gesichtspunkten und ungleich unter anderen“ (Bobbio 2004, 77). Die Rechte sei daran interessiert, gesellschaftliche Diskriminierungen als Ausfluss natürlicher Unterschiede zwischen Menschen darzustellen und damit zu legitimieren/rationalisieren. Norberto Bobbio erläuterte anschaulich am Beispiel des Frauenwahlrechts, wie das historisch auch in Demokratien funktionierte: „Das Wahlrecht für Frauen ist so lange nicht anerkannt worden, wie der Unterschied zwischen Mann und Frau für derart relevant galt, dass man damit den Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht rechtfertigte“ (Bobbio 2004, 81).

Abgesehen von der von ihm unterstellten kollektiven Spaltung glaubt de Benoist wie alle Rechten nur eins, nämlich „dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“ (Benoist 2018, 59). Als „Wölfe“ werden sie von Alain de Benoist „Rudeln“ zugeordnet – gemeint sind natürlich Rassen. Juden und Christen sind für den Impresario der Identitären in Europa die Antagonisten dieser Wahrheit, weil sie die Gleichwertigkeit der Menschen predigten und damit die Abwehrkräfte der „weißen Rasse“ schwächten. Identitäre sprechen aus diskurstaktischen Gründen zwar von Ethnien – denken dabei aber in Wirklichkeit nur in Rassen. Der Feind sind die Menschenrechte.

„Damit die ‚große Politik‘ der Zukunft gemacht werden kann, muß die ‚jüdisch-christliche Schuldkultur‘“ (Christadler 1983, 195; zitiert nach Alain de Benoist), ätzte Alain de Benoist schon vor knapp einem halben Jahrhundert gegen die humanistische Botschaft der Bergpredigt.[2] „Nur ‚durch Selektion und Vermehrung eines Menschentypus von hoher Intellektualität und starkem Willen‘ (Chassard) läßt sich das Abgleiten der Europäer verhindern. Der göttliche Mensch ist ein Produkt aus Moral und Züchtung“ (Christadler 1983, 195).

Gesellschaftlicher Wandel und das kulturalistische Missverständnis im „metapolitischen“ Politikverständnis der Identitären Bewegung

Die westlich geprägte „dekadente Moderne“ – nicht der Islamismus – ist der philosophische und politisch-kulturelle Hauptgegner der Identitären. Die islamische Religion (nicht nur der Islamismus) und die Menschen, die für sie stehen – gilt es aus Europa zu entfernen. Das bildet für sie aber „nur“ eine machtpolitische Herausforderung. Ideologisch stellt der Islam jedoch keine Herausforderung dar – anders als die Aufklärung und die Moderne – das muss man beachten, wenn man über die Perspektiven rechter Kultur im weitesten Sinne nachdenkt. Die sozialen und kulturellen Effekte der mit der Industrialisierung einsetzenden Moderne (die Infragestellung und Auflösung bislang gültiger Normen, der Abbau autoritärer Erziehungsformen, die Änderungen der Sexualvorstellungen, die Individualisierung, die Auflösung traditioneller Milieus – ob bei der Arbeiterschaft oder kirchlichen Gemeinschaften) werden uminterpretiert zu Kulturprodukten eines „Kulturmarxismus“. Unter diesem neurechten Feindbild werden transnationale Großkonzerne, demokratische Parteien, Medien und Wissenschaft zusammengepackt oder noch genauer; als etwas (Links-)Identitäres phantasiert. Linke und transnationale Kapitalisten wollen via „Kulturmarxismus“ (die Nazis sprachen vom jüdischen „Kulturbolschewismus“) die Gesellschaft durch permanente Dekonstruktion („Aufklärung“), Sprachpolitik und Moralismus zerstören, alle „organischen“ Identitäten wie in Salzsäure auflösen. Allerdings sollte beachtet werden, dass in diesem verdrehten rechten demagogischen Ausdruck ein wirklicher Sachverhalt seinen paranoiden Ausdruck findet.

„Liberalismus und Marxismus, die beide insofern auf je eigene Weise große aufklärerische Erzählungen waren, als dass sie Geschichten vom menschlichen Fortschritt zu erzählen suchten, verleiten uns zu der Annahme, solche alten symbolischen Zugehörigkeiten zu Orten, Stämmen, Lokalitäten, Religionen und Landstrichen würden durch den Vormarsch der kapitalistischen Moderne, die auf ihrem Weg alles kommodifiziert, rationalisiert und damit homogenisiert, was ihr in die Quere kommt, stufenweise aber unweigerlich hinweggefegt werden. Die marxistische Logik des Kapitals und das liberale Drängen auf Säkularisierung und Universalismus sind, zumindest in diesem Sinne, keine antithetischen, sondern einander spiegelnde Diskurse.“  (Hall 2019, 135).

Für Stuart Hall wird die Geschichte der Moderne, in den sich spiegelnden Diskursen von Liberalismus und Marxismus jedoch einseitig und unvollständig erzählt. Die rechtsextremen Aktivitäten und erst recht die rechtsextreme Identitäre Bewegung erinnern uns daran, dass Stuart Hall Recht hat: dass Gewalt und gesellschaftlicher Zerfall sich nicht nur aus ökonomischen Interessensgegensätzen erklären lassen – wenngleich wohl auch nicht ohne sie. Sozioökonomische Interessenkonflikte können allerdings auch demagogisch-ideologisch unsichtbar werden – marxistische Faschismusanalysen haben diesen Prozess oft fehlinterpretiert als einen Geschichtsprozess, der sich im Interesse von bestimmten Klassen steuern ließe.  

Ethnopluralismus als Ideologieblase und die Identitäre Bewegung in Deutschland

Die ideologischen Exponate der Neuen Rechten aus Frankreich erlebten im deutschsprachigen Raum in den 1960er und 1970er Jahren nur sehr marginal in rechtsextremen Kreisen eine Rezeption. Als Initialzündung der Neuen Rechten gilt ein kurzer Aufsatz, der in der Januarausgabe 1967 der rechten Zeitschrift Nation Europa erschien. „Unter dem Pseudonym Hartwig Singer berichtete da ein junger Deutscher aus einem Sommerlager französischer Nationalisten in der Provence. ‘Nationalismus ist Fortschritt‘ lautete die Losung“ (Staud 2005, 77). Henning Eichberg, ein damals 25-jähriger Student der Geschichte und Literatur in Hamburg, der sich hinter dem Pseudonym verbarg, schwärmte von der Mischung aus Lagerfeuer, Kampfsport und anspruchsvollen ideologischen Schulungen, so Toralf Staud – wie es später auch die Identitären in Deutschland praktizierten. Henning Eichberg hasste die Amerikanisierung der deutschen Mentalität nach der Niederlage des Nationalsozialismus. Die mit der Befreiung vom Nationalsozialismus auch politisch-demokratisch nobilitierte Individualisierung der Gesellschaft – die allerdings auch ohne diese politische Aufwertung zur gesellschaftlich Realität gehört – machte er für soziale Zerfallsprozesse verantwortlich. „Das allein Individuelle führt in den Drogenexitus, das ist eine ganz natürliche Konsequenz, die noch zunehmen wird, solange Alternativen nicht in Sicht sind“, erklärte er 1979 in einem Gespräch, das die linke Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation dokumentierte. „Diese Identität muss uns vielmehr als Kollektiv betreffen, als regionales und als nationales Kollektiv. Wir sind eben doch Deutsche“ (Eichberg 1979, 130).

Henning Eichberg gilt zusammen mit Alain de Benoist als ideologischer Nestor des Ethnopluralismus. In den späten 1960ern und 1970er Jahren empfahl er der Rechten eine ideologische Neuausrichtung. Sie sollte als moderne, zukunftsorientierte attraktive Jugendbewegung agieren können und nicht mehr als Sammelbewegung rückwärtsgewandter Nazis erscheinen. Eichberg, der nach der Flucht aus Schlesien erst in der DDR aufwuchs und später in Hamburg, habe ursprünglich zum Lager der Nationalneutralisten gehörte, berichtete der neurechte Publizist und Kuratoriumsvorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung Karlheinz Weißmann[3] in einer biographischen Skizze über ihn. Er geriet Anfang der sechziger Jahre in „‚ungebundene Zirkel der Rechten‘ um die Zeitschrift Nation Europa. Seine Führungsposition innerhalb der Neuen Rechten hatte auch nichts zu tun mit organisatorischem Talent oder Einsatzbereitschaft, sondern mit einem gewissen Charisma und einer auf der Rechten ungewohnten intellektuellen Angriffslust. Sein erklärtes Ziel war es, die Ideologiefeindschaft und Rückwärtsgewandtheit der deutschen Rechten hinter sich zu lassen. Er setzte deshalb auf Terminologie und Konzepte, die sonst bevorzugt von der Linken verwendet wurden, zitierte in der Auseinandersetzung Lenin oder Mao und übernahm bestimmte Argumente der APO – ‚Demokratisierung‘, Kritik des ‚Establishments‘ – nicht aus taktischen Gründen, sondern weil sie ihm zeitgemäß erschienen.“ (N.N. 2017).

Er habe damals nach „[…] einer neuen Position jenseits von rechts und links“ gesucht, berichtete Eichberg selbst Toralf Staud Anfang der Nuller Jahre. Mit dem „Schlips-und-Kragen-Konservatismus“ der NPD habe er nichts anfangen können – ihn faszinierte der Habitus der „Neuen Linken“. Eichberg proklamierte Anfang er 1970er in einem rechtsradikalen Manifest: „‚Moderner Nationalismus ist antiimperialistisch‘, nämlich gegen die Mächte gerichtet, die Deutschland besetzt halten.“ Das Manifest proklamierte in der Diktion der Linken „‚die Solidarität aller unterdrückten Völker‘“ (Staud 2005, 79).

Alain de Benoist hatte formuliert, wie das zu verstehen ist: „Ich bin für die Nicht-Diskriminierung, für die Entkolonisation, für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Aber unter einer Bedingung: dass es keine Ausnahmen von der Regel gibt. Wenn man gegen die Kolonisation ist, dann muss man für wechselseitige Entkolonisation sein, d.h. Gegen alle Formen von Kolonisation, gegen die strategische, ökonomische, kulturelle, künstlerische etc. Man hat das Recht für die Black Power zu sein, aber unter der Bedingung, dass man gleichzeitig für die White Power, die Yellow Power und die Red Power ist. […] Wir sehen, wie Ideologen für die Achtung aller Rassen eintreten. Mit einer Ausnahme: der unseren…“ (Benoist 2018, 102). Das Recht aller Völker (Ethnien) soll bekräftigt werden, „[…] sie selbst zu sein: das Recht, das alle Völker haben, danach zu trachten, zu ihrer vollen Entfaltung zu gelangen – wider jeden Universalismus und wider alle Rassismen.“ (Benoist 2018, 103). Das Volk sei höher zu stellen als das Individuum, gehörte zur Sub-Botschaft dieser Ideologie. Aber unter jungen Menschen konnten Eichberg und seine neurechten Mitstreiter die kulturelle Hegemonie nicht erschüttern. Er versuchte sich damals kurz als Liedermacher. „Aber auch das konnten die Linken besser,“ räumte der 2017 in Dänemark verstobene Eichberg rückblickend ein (Staud 2005, 83).

Alain de Benoist begeisterte sich vor allem für „Volkslieder, in denen ich die Stimme des Volkes zu hören vermeinte. In der Wohnung, in der meine Frau und ich damals lebten [in den 1970er Jahren, Anm. Ingo Zander] […] hörten wir Tausende von Schallplatten: Lieder aus der irischen Revolution, dem Spanischen Bürgerkrieg (republikanische, falangistische und karlistische), anarchistische Lieder, Lieder der amerikanischen Gewerkschaftler, der libanesischen Phalangisten, lettischen Faschisten und angolanischen Kämpfer, aber auch Lieder, die in regionalistischen Kreisen gesungen werden – Marti Géranium, Glenmor und viele mehr“ (Benoist 2014, 151).

Rechte Gesellschaftspolitik links formulieren – das verstanden Alain de Benoist und seine Mitstreiter und erfuhren in den 1970er und 1980er Jahren als intellektuelle Stimmen in renommierten französischen Medien Anerkennung und gesellschaftliche Aufwertung – etwa 1979 in Le Monde und dem Nouvel Observateur, nachdem er 1978 den Prix Goncourt der Academie Francaise erhalten hatte – was „[…] seiner Weltanschauung quasi offizielle Weihen und Publizität“ (Christadler 1993, 162) verlieh. Ihre ideologische Faustformel lautete im Kern immer nur: Jedes Volk sei besonders und müsse geachtet werden, allerdings solle jede Ethnie in ihrem eigenen Territorium leben und ihre Kultur bewahren – in einer möglichst klar definierten ethnokulturellen Sphäre. Dies implizierte eine Ablehnung der Migrationsströme nach Europa und der Vorstellung von einer universellen Zivilisation. Das war potenziell auch in linksalternativen Kreisen anschlussfähig, in denen man sich mit den Völkern der Dritten Welt solidarisieren wollte und ihre Kulturen exotisch romantisierte.

Identitäre Bewegungsversuche seit den Nullerjahren

In Frankreich trat eine Identitäre Bewegung erst 2002 unter dem Label Génération Identitaire auf. 2021 wurde sie verboten. Anlass des Verbotsverfahrens waren Aktionen unter dem Motto „Defend Europe“. Mitglieder lauerten Migranten in den Pyrenäen und in den Alpen auf und versuchten, diese nach Spanien beziehungsweise Italien zurückzudrängen. Dabei seien auch Hubschrauber und Drohnen zum Einsatz gekommen, wie es im Innenministerium hieß. Zudem wurde darauf verwiesen, dass Brenton Tarrant, der im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen ermordete, zu den Förderern der französischen Organisation zählte.

In Deutschland und Österreich bildete sich nach französischem Vorbild 2012 eine identitäre Bewegung. Zuerst trat sie im Herbst 2012 nur bei Facebook als Truppe an: Ihr Credo „0% rassistisch, 100% identitär“– verziertmit einem Lambda-Symbol. Das interpretierten einige deutschsprachige Medien bereits als Pop-Appeal und raunten von einer neuen Jugendbewegung.[4] Medienstrategisch war die erst einmal rein digitale anonyme Präsenz bei Facebook ein kluger Schachzug. So baute sich eine Aura des Geheimnisvollen um die Identitären auf. Martin Sellner – der prominenteste Vertreter der Gruppe – erklärt mit Bezugnahme auf Benoist: „‚Wir wollten ihnen die richtigen Begriffe an die Hand geben‘. Man habe sich vom Nationalsozialismus distanzieren wollen, ohne sich in einen Kosmopolitismus zu begeben. Mit Begriffen wie dem der ethnokulturellen Identität versuchten die Identitären Gefühle zu treffen, die sich mit Heimat, Herkunft und Gemeinschaft verbänden“ (Wagner 2017, 217). Die Politisierung von Emotionen und gleichzeitige Destruktion kritisch-rationaler Reflexion gehört zur Strategie aller rechtsextremen Bewegungen.

Identitärenaktivist Mario Müller,1988 in Bremen geboren, beschrieb 2017 in einem im Antaios Verlag erschienenen Buch die Anfänge so: „Bereits seit 2002 hatten sich unter dem Schirm der ‚Jeunesse Identitaire‘ verschiedene Einzelpersonen und regionale Gruppen gesammelt, die die ausgetretenen Wege der Alten Rechten verlassen wollten. Unter ihrem Credo ‚Jugend führt Jugend‘ organisierten sie gemeinsame Konferenzen, Schulungen und Sommerlager. Der Fokus lag eindeutig auf der Schaffung einer identitären Gegenkultur“ (Müller 2017, 94). Verlagsinhaber Götz Kubitschek hatte sich im Herbst 2012 eine Aktion der französischen Identitären vor Ort in Orange angeschaut – genauso wie Martin Sellner (Kubitscheck 2012a, 2012b, 2012c, 2013c)

Kubitschek mahnte in seiner Rolle als väterlicher Fellow die jungen Aktivisten Anfang 2013: „Die IBD wird von den Medien NICHT als interessante, großstädtisch virulente Protestbewegung begrüßt und nach oben geschrieben (wie es dem chaotischen Haufen der Piraten widerfuhr), sondern sofort in eine rechtsradikale Ecke abgeschoben, medial geschlachtet und sozial bedroht“ (Kubitscheck 2013b).

Die Identitären sollten Abstand zum tradierten Rechtsextremismus in Deutschland halten, sonst sei das Projekt schnell kontaminiert und nicht mehr öffentlichkeitstauglich.

„Der Nationale Widerstand – in sich inhomogen vom orthodoxen Hitleristen bis zum nationalistischen Intellektuellen reichend – wittert in der IBD ein Auffangbecken und ein neues, unverbrauchtes Etikett für den alten Wein, den er anzubieten hat. Vor allem in den mitteldeutschen Bundesländern suchen Bewerber aus diesem verbrannten Milieu Kontakt zu den (vor allem virtuellen) Gruppen der IBD“ (Kubitscheck 2013b).

Martin Sellner, das einzige prominente Mediengesicht der identitären Bewegung im deutschsprachigen Raum und ihr Chef in Österreich, berichtet in seinem ebenfalls im Verlag Antaios veröffentlichten propagandistischen Rückblick über die Schwierigkeit, die Marke „Identitär“ medienpolitisch zu sichern: „Unzählige Nachahmer sprossen wie Pilze aus dem Boden. Hunderte zukünftige Karteileichen meldeten sich, und bald hatte jedes Kaff von Buxtehude bis Bayern seine eigene Identitäre Bewegung – zumindest auf Facebook… Die Gefahr lag auf der Hand: Alle gescheiterten Altrechten sahen im Lambda ein neues unverbrauchtes Etikett für ihre immergleichen Angebote“ (Sellner 2017, 176). Bald stellte sich die Frage: „Welche Facebook-IB war echt“, äußerte sich Sellner (ebd.) besorgt. In Deutschland ließen sich die ‚wahren‘ Identitären zur Sicherheit in Paderborn 2014 als Verein registrieren (vgl. Ministerium des Innern
des Landes Nordrhein-Westfalen 2017, 86; wie Sellner 2017).

Gleichzeitig pflegten sie Kontakte zum völkischen Flügel in der AfD, den Götz Kubitschek maßgeblich ideologisch prägte.[5]

„Angela Brüning“ (ein Pseudonym) betrachtete die Aktivitäten der jungen Rechten mit großer Skepsis. Auf der Kommentarspalte in der Online-Sezession schrieb sie am 27.02.2013: „Was den Identitären im Wesentlichen fehlt, ist […] das, was man Ernst Nolte oft vorgeworfen hat, nämlich Herzenskälte.“ (Kubitscheck 2013b, Kommentarspalte).

Götz Kubitschek lobte zwar die fleißige Organisationsarbeit der jungen Leute, mahnte aber die Antwort auf die metapolitische Herausforderung an: „Unter anderem aufgrund dieser Hindernisse ist es der IBD bisher nicht gelungen, so etwas wie ein Zentrum der eigenen Idee auszubilden und eine Gestalt auszuprägen, die nicht mehr verloren gehen kann.“ Und, „Über alledem hat die IBD bis heute nicht erklären können, was sie eigentlich unter ‚Identität‘ versteht“, moniert ihr Nestor in väterlichem Ton. „Dies ist auch nicht einfach: Wo Identität als selbstverständlicher Lebensanker verortet ist, muß man sie nicht metapolitisch aufrüsten; wo sie es nicht mehr ist (eben in den Großstädten, und nirgends anders gibt es Bedarf an einer IBD), muß sie [die identitäre Bewegung, Anm. Ingo Zander] es zeitgemäß, großstädtisch, modern formulieren – und vor allem vorleben“ (Kubitscheck 2013b).

Die jungen Aktivisten verwiesen zu ihrer Verteidigung auf ihre ersten Aktionen:

„Marc Identitär 27. Februar 2013 11:44:
‚Die IB Deutschland besteht seit Oktober. In diesen paar Monaten haben wir schon für ein ganz ordentliches Medienecho gesorgt. Angefangen von der ersten ‚Hardbass‘ Aktion in Frankfurt, bis hin zum identitären Flashmob vor dem Brandenburger Tor, einem recht professionellen Internetauftritt und einem eigenen kleinen Internetshop für Aktive‘“ (Kubitscheck 2013b, Kommentarspalte).

Ältere Rechte und Leser der Online-Sezession bezweifelten, dass es den Identitären gelingen könne, die jungen Opfer der Moderne für eine neurechte Gegenkultur zu mobilisieren.

„F451:
‚Man muss aber auch mal klar sagen, es gibt viel zu wenige deutsche Jugendliche die diesen tiefgreifenden Schmerz wirklich empfinden. Die sich fragen, warum sie fast alle aus Scheidungsfamilien stammen, während die türkische Großfamilie nebenan immer mehr zulegt. Warum es unter ihnen keinen Zusammenhalt gibt, auch da wo sie bereits in der Minderheit sind. […] Kaum einer von denen verfügt über eine eigene Meinung, alle rennen sie irgendwelchen vorgegebenen Sprechblasen nach und fühlen sich noch unheimlich schlau dabei. Echte Frustration entsteht erst, wenn der Kollege schon wieder ein neues Handy hat, man selbst aber noch nicht‘“ (Kubitscheck 2013b, Kommentarspalte).

Eine Kulturrevolution hat es in der Konsumgesellschaft in den 1960er Jahre allerdings in den USA gegeben, die in der Wahrnehmung der Identitären für das Horrorbild einer liberalen dekadenten Gesellschaft stehen. Die linken Kulturrevolutionäre rebellierten gegen einen kapitalistisch getriebenen seelenlosen technokratischen Fortschritt und traten als Dichter, Musiker, Maler, Philosophen, Filmemacher und Politclowns in den Medien, Universitäten und in der Öffentlichkeit auf. „Die Große Weigerung, die Marcuse als eine Möglichkeit künstlerischer und religiöser Phantasie ansieht, besteht in der Überwindung sozialer Herrschaft im Namen von Freude und Freiheit, die durch Ungerechtigkeit in der Welt bitter durchkreuzt wurden“, schrieb Theodore Roszak in seinem weltweit übersetzten Klassiker „The Making of a Counter Culture“ (Roszak 1971, 176).

Identitärer Pop-Anspruch

Im Februar 2013 berichtete Götz Kubitschek in seiner Online-Sezession, dass 3Sat Kulturzeit ihn gebeten habe, für eine Sendung über das neue Phänomen Identitäre Bewegung einen Aktivisten zu vermitteln. Er habe jedoch empört abgelehnt, als er erfuhr, dass in der Sendung auch der Düsseldorfer Rechtsextremismusexperte Alexander Häusler auftreten solle. Damit sei für ihn klar gewesen, dass die Identitäre Bewegung nur als rechts denunziert werden solle.  „Er hätte doch auch einen Experten …für popkulturelle Politikansätze holen können. Hat er aber nicht […]“, klagte der Verleger. (Kubitscheck 2013a). Pop erschien Kubitschek damals offenbar als soziales Feld, in dem der Kampf um die kulturelle Hegemonie leichter auszutragen wäre, als im dezidiert als Politik gekennzeichneten öffentlichen Raum. Da geisterte er wieder herum: der vage metapolitische neurechte Ansatz für die Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse.

Und wie sieht es mit dem Stoff für die rechte Kulturpiraterie aus? Ihn gibt es durchaus, aber es gab offenbar kaum kulturelle Kompetenz dafür, nur Rapper wie Chris Ares. Chris Ares bietet seinem Publikum Texte, die Realität als Comics deuten, in denen der Klang eines Muschelhorns ertönt und eine Bestie aus dem Nichts mit eisernen Krallen nach ihren Opfern greift. In dieser Phantasiewelt von Jünglingen muss wohl untergründiger Zweifel an der Identität als Mann nagen, wenn solche Songtexte geschrieben werden wie:

„Eingehüllt in strahlendes Licht
Durchbrechen wir die engen Mauern
Von Zwängen und Trauer
Mit brennender Aura
Die Bestie greift nach uns
Mit ihren eisernen Krallen
Ich channel die Kraft
Der in den vergangenen Zeiten gefallenen Kriegern
Aus den heiligen Hallen
Gucke nach vorn
Reihe mich ein
Der Klang des Muschelhorns
Mit den Pfeifen erschallen
Hinaus in die Weiten des Alls
Die Brut des Adlers
Bleibt verwurzelt mit Mutter Gaia
Und Buddha Dharma.

Von Lissabon bis Belgrad
Wien bis nach Berlin
Von Krakau bis nach Helsinki
Tallin und auch Stettin
Kopenhagen, Dublin, Sofia
Bosnien Herzegowina…“

(Auszug aus „Söhne Europas“ von Chris Ares und Absztrakkt, 2020, URL: https://genius.com/Chris-ares-and-absztrakkt-sohne-europas-lyrics)

Unter den akademisch ausgebildeten Mitstreitern in der Identitären Bewegung werden solche Songs intern als „Kanaken-Sound“ bezeichnet, berichtete mir eine identitäre Aussteigerin. Das Misstrauen oder gar die Verachtung alter Neo-Nazis gegenüber solchen Kulturprodukten ist deshalb nicht einfach als verstockt abzutun, sondern durchaus plausibel. Musik mit „identitärem“ Anspruch erinnert eher an Artefakte, die Stuart Hall zu zunehmend hybridisierten Formen kultureller Identität im globalisierten Kapitalismus zählt. „Jeans und Turnschuhe, die Uniform der Jugend in der westlichen Populärkultur, sind in Südostasien ebenso allgegenwärtig wie in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien“, konstatiert Hall – und man dürfte dabei auch an den europäischen Kontinent denken. „Unter solchen Bedingungen ist es schwer, sich das Kochen von Gerichten aus der asiatischen Küche als Ausdruck der authentischen ‚ethnischen‘ Traditionen des südasiatischen Subkontinents vorzustellen, wenn es in den Hauptstraßen jeder kleinen oder größeren Stadt Großbritanniens mindestens zwei indische Restaurants gibt“ (Hall 2018, 130-131). Götz Kubitschek und Martin Sellner dürften ihre Hoffnung auf die Etablierung einer urbanen „identitären Gegenkultur“ schon bald begraben haben. Jedenfalls behandelten beide die aktiven Identitären nicht wie die jungakademische Avantgarde einer neurechten Kultur. Sie nutzen die identitäre Bewegung für etwas anderes: zur Propagierung der antisemitisch grundierten rechtsextremen Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch“. Das Buch dafür hatte der rechtsextreme Schriftsteller Renaud Camus geschrieben – 2017 erschien es in deutscher Übersetzung in Kubitscheks Antaios Verlag – mit einem Nachwort von Martin Sellner.

Als sich der rechtsextreme Australier Brenton Tarrant, der im März 2019 in Christchurch/Neuseeland in zwei Moscheen 51 Menschen erschoss, auf diesen „Großen Austausch“ berief, erlitt die Identitäre Bewegung einen kaum noch reparablen Imageschaden. So sah es jedenfalls Götz Kubitschek. Der Massenmörder hatte „dummerweise“ eine kleine Summe an die Identitäre Bewegung in Österreich gespendet und Martin Sellner hatte sich dafür bei ihm nachweislich bedankt.

Zum Ende des Jahres 2019 teilte Götz Kubitschek in der Online-Sezession mit, dass die Identitäre Bewegung in der jetzigen Form erledigt sei. Auch das für ein paar Jahre angemietete Haus der Identitären in Halle werde aufgegeben. Die Identitären müssten sich etwas Neues überlegen. Mehr als 300 Leute hatten sie selbst auf ihrem Höhepunkt im Jahr 2017 wohl nie als Mitglieder. Aber sie konnten sich mehrere Jahre lang als neurechte Jugendbewegung inszenieren. Medientheoretisch könnte man das auch als ein Beispiel für so genanntes Astroturfing einordnen.

Die „Identitäre Bewegung“ erodiert – das ideologische Konstrukt Ethnopluralismus taugt nicht einmal als demagogische Formel innerhalb der inszenierten „Bewegung“. „Festzuhalten ist, dass Ethnopluralismus nicht als konsequent durchführbares politisches Programm oder geschlossenes philosophisches System taugt“, erklärte 2021 Martin Lichtmesz (mit bürgerlichen Namen: Martin Semlitsch), ein österreichischer Fellow Traveller von Götz Kubitschek und Martin Sellner, in der rechten Vierteljahresschrift „Tumult“. „Innerhalb der Neuen Rechten findet man den Versuch einer konsequenten politischen Programmatik lediglich bei dem Erfinder des Begriffs, Henning Eichberg, der den Ethnopluralismus als antiethnozentrisch und antieurozentrisch bestimmte. Eichberg hat sich jedoch bereits seit Ende der 1970er Jahre stetig nach links bewegt und ist kein maßgeblicher Autor für die heutige Neue Rechte“ (Lichtmesz 2021, 23).

In meinen Interviews mit Identitären ist immer sofort von Ethnopluralismus die Rede gewesen, wenn ich nach ihrem politischen Programm fragte – aber nur als Floskel, ohne außenpolitische und wirtschaftspolitische Einbindung. Dafür könnte nun das Buch Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus des Kölner Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck dienen, in dem dieser für eine Auflösung der EU und ein harmonisches Miteinander/Kooperieren von Nationalstaaten plädiert.

Streeck fabuliert in dem Buch über die Würde des Einzelnen, um dann auf das demokratische Kollektiv zu sprechen zu kommen, das ihm je kulturell homogener, desto demokratischer und vernünftiger erscheint: „Die Geschichte quillt über von Beispielen, in denen einmal angenommene Identitäten bis aufs Blut verteidigt werden“ (Streeck 2021, 183). Wenn er es richtig verstehe, „[…] dann ist ebendies – das Recht, nach eigenem Ermessen man selber bleiben oder ein anderer werden zu dürfen – der Kern des staatlichen Versprechens in Art. 1 des Grundgesetzes, die ‚Würde des Menschen‘ nicht anzutasten“ (Streeck 2021, 184, Fußnote 50).  Dasselbe gelte auch für Gesellschaften, so Streeck weiter: „Wahrscheinlich in erhöhtem Maße. Gesellschaften sind Komplexe historisch zusammengewachsener, dadurch mehr oder weniger interdependent gewordener Institutionen, die oft, aber nicht immer, in und von Staaten gebündelt, formalisiert, verteidigt und revidiert werden. Als solche sind sie, mehr oder weniger gut, auf ihre soziale und natürliche Umgebung und die von ihnen gesetzten Grenzen und gebotenen Möglichkeiten eingestellt. Gegenüber ihren Mitgliedern beanspruchen die in einer Gesellschaft, mehr oder weniger kohärent, zusammengeschlossenen Institutionen Verbindlichkeit, wobei sie von ihren mit einem Gewaltmonopol ausgestatteten Staaten unterstützt werden. Ihre Mitglieder wiederum identifizieren sich mehr oder weniger mit der Gesellschaft, zu der sie sich rechnen und gerechnet werden“ (Streeck 2021, 184). 

Nils Minkmar wies zu Recht in seiner Rezension auf den neurechten Bodensatz im Buch des bislang als links geltenden Sozialwissenschaftlers Streeck hin: „Im Umfeld des AfD-Vordenkers Götz Kubitschek dürfte man mit dem Buch sehr einverstanden sein“ (Minkmar 2021). Ethnopluralismus sei zwar kein theoretisch kohärent ausgearbeitetes  Konzept, meint der österreichische neurechte Publizist Martin Lichtmesz, aber nützlich sei er dennoch als regulative Idee: „[A]ls analytische Methode, als ethisches Prinzip (der Toleranz und des Leben-und-Lebenlassens) und als ethnologischer und biologischer Realismus (wozu auch die Frage gehört, ob es Rassen ‚gibt‘). Da die Idee des ‚Selbstbestimmungsrechts der Völker‘ eng mit ihm verwandt ist, ist er auch Teil der demokratischen Tradition“(Lichtmesz 2021, 23).

Mit der zunehmenden Einwanderung nach Europa sei das ethnopluralistische Denken zum defensiven Argument geschrumpft, so Lichtmesz (2021, 23). Nach der Bundestagswahl am 26. September 2021 brachte ein langjähriger Dauerkommentator in der von Götz Kubitschek verantworteten Sezession online die Wählerverluste der AfD (verglichen mit der Bundestagswahl 2017) so auf den Punkt:

„RMH 28. September 2021 10:43:
‚AfD Kandidaten und Parteipersonal, welches sich in aller Regel aus Leuten zusammensetzt, die aus irgendwelchen Gründen keine soziale Fallhöhe mehr haben. Bräsige, graumelierte Pensionisten, Rentner und exzentrische Selbständige, die eine Marktnische zu haben scheinen, wo sie nicht von der cancel culture [Hervorhebung durch Ingo Zander] betroffen sind, aber allesamt ihren Hintern nicht in die Öffentlichkeit bewegen. Dazu ständig nur die Botschaften, wie schlecht doch alles ist. Tja, damit sprich man dann genau die Wähler an, die man selber ein Stück weit repräsentiert und davon gibt es eben kaum mehr als 10%.‘“ (Fiß 2021, Kommentarspalte).

Ein anderer Leser der Sezession online beschreibt die für ihn frustrierende Diskrepanz zwischen der Anforderung einer rechten Kulturrevolution und der Lage in Deutschland nach dem zweiten Einzug der AfD in den Bundestag (deren Radikalisierung nach rechts wesentlich von Götz Kubitschek betrieben wurde) – so:

„Volksdeutscher 28. September 2021 12:09 @Allnichts: 
‚Der Großteil der Deutschen hat die Folgen der Einwanderung jeden Tag vor Augen, sie gewöhnen sich einfach daran. Auch ich habe sie tagtäglich vor Augen und trotzdem kann und will und werde ich mich nicht daran gewöhnen…Ich halte diese Leute für nihilistische Konsumidioten, die nur in genetischer Hinsicht, aber nicht in Geist und Seele Deutsche sind… Geht es ihnen mal wirtschaftlich schlecht, dann sind sie die ersten, die auswandern. Sie sind ersetzbar und austauschbar. Und sie lassen sich auch austauschen, sonst hätten deutschfeindliche Kräfte in diesem Land keinen Erfolg mit dem Volksaustausch‘“ (Fiß 2021, Kommentarspalte).

Vorläufiges Fazit: Die rechte Ideologie und der Pop als Spielfeld

Rechtsextreme Kräfte haben in Deutschland in gesellschaftlichen Institutionen – von der Feuerwehr, über Polizei, Bundeswehr, Schule/Hochschule bis zu den Parlamenten und im Internet – ihren Einfluss ausweiten können, doch eine rechte Kulturrevolution konnte bisher kaum kraftvoll Wurzeln schlagen. Vielleicht erklärt sich das auch aus der Besonderheit des Pop. Er wirkt zwar nicht als Vektor von oder Verstärker für demokratisch-humane Energien, wie das noch bis zur Auflösung des Ostblocks von westlichen Pop-Forschern mit großer Plausibilität angenommen werden konnte. So schreibt Diedrich Diederichsen: „Das ist die eigentliche Aufgabe der Pop-Musik: die Verbesserung der Versprechungen. Dieses erste bessere Versprechen war in den 50er Jahren dasjenige, man könnte ein eigener ganzer und individueller Mensch in einem viel tieferen Sinne sein, als man sich dies von den Körpern der Männer in den grauen Flanellanzügen vorstellen konnte“ (Diederichsen 2014, 410). Und der amerikanische Popmusik-Produzent Joe Boyd veranschaulichte in seinen Erinnerungen, was das politisch bedeutete: „1954 bis 1956 waren die Jahre des Umschwungs, in denen schwarze Musik von weißen Teenagern entdeckt wurde und sich millionenfach verkaufte. Die entsetzten Tugendwächter der Nation fürchteten die Welt der Unterschichten, für die diese Musik stand, und die in ihren Rhythmen angedeutete Rassenmischung. Die großen Plattenlabel hassten die Musik, weil sie sie nicht verstanden und deshalb gegenüber Freibeutern wie Ahmet Ertegun von Atlanta […] ins Hintertreffen gerieten“[6]

Aber Pop lässt sich anscheinend auch nicht durch Rechtsextreme für ihr autoritäres Projekt instrumentalisieren. Vorausgesetzt, dass sich die zeitgeschichtliche Beobachtung des Historikers Ulrich Herbert anthropologisch-pop-theoretisch für die Gegenwart und Zukunft ausdeuten lässt. „Es etablierte sich während der Kriegsjahre die Hegemonie der Popularkultur, zur gleichen Zeit wie in Großbritannien und Frankreich und einige Jahre später als in den USA. In ihr kündigte sich die Konsumgesellschaft bereits an, die nach den Gesetzen des Marktes funktionierte, auf Individualität abzielte und grenzüberschreitend agierte.“ (Herbert 2021, 236). Mit einer nationalkulturell isolierten „Volksgemeinschaft“ sei das kaum vereinbar, gibt Herbert zu Recht zu bedenken und erinnerte daran, dass schon während der Nazizeit der Widerstand gegen diese Musikkultur vom Regime mit wachsender Irritation thematisiert wurde. „Vom jugendlichen Publikum“, berichtete der SD im Sommer 1942 empört, „werde eine anständige, deutschem Geschmack entsprechende Unterhaltungsmusik so eindeutig boykottiert und andererseits Jazzmusik teilweise mit so drastischen Mitteln verlangt, dass die Kapellen allmählich weich werden, diesem Drang nachgeben und umso besinnungsloseren Beifall dieser Jugendlichen ernten, je wilder verjazzt und verlotterter die gebotene Musik wird“ (Herbert 2021, 236).

Pop – im Sinne Diedrich Diederichsen hedonistisch definiert – ist nicht mehr, wie in den Jahrzehnten nach der Befreiung, von Nationalsozialismus bis zur Auflösung des Ost-Blocks automatisch ein Agens der Befreiung – aber wohl auch kein verlässliches Vehikel für eine völkisch-rassistische Gesinnung.  


Zum Autor

Ingo Zander, geboren 1956, aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie, Sozialwissenschaftler, Fachrichtung Politische Wissenschaften, Studium an der Universität Duisburg. Freier Autor seit dreißig Jahren – Beiträge vor allem für den Öffentlich-rechtlichen Hörfunk. Zahlreiche Features zu gesellschaftlichen Themen: Antisemitismus, Rassismus, politische Kultur, Alltagsprozesse und Kultur, Arbeitsmarkt und Bildungsprozesse, Rechtsradikalisierung der Gesellschaft. Ingo Zander verstarb im Oktober 2021.


Anmerkungen

[1] Ingo Zander verstarb völlig unerwartet nach der Einreichung für den vorliegenden Tagungsband in der Series. Die Herausgeber*innen schätzten Ingo Zander als kritischen und kompromisslosen Journalisten und hoffen, mit der Publikation dieses Beitrages zur nachhaltigen Sichtbarkeit seiner investigativen und unermüdlichen Arbeit beizutragen. Ein großer Dank geht an dieser Stelle an Clara Drechsler und Harald Hellmann, die diesen Text noch mit Ingo Zander diskutieren konnten und die vorliegende Version mit den Herausgeber*innen abgeglichen haben sowie an Diana Pfeifle für ihre Unterstützung bei der formalen Anpassung.

[2] „Also werden die Letzten die Ersten sein, und die Ersten werden die Letzten sein“, Matthäus 20:16

[3] Siehe auch Ingo Zander: „Die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung“ WDR 5 Neugier genügt – das Feature 3.9.2021. https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/feature-Desiderius-Erasmus-Stiftung-102.html

[4] Ein Beispiel dafür ist der Beitrag von 3sat Kulturzeit über die Identitäre Bewegung vom 7.3.2013: https://www.youtube.com/watch?v=SQ5lbHJTkRs

[5] Ingo Zander: „Die AfD in NRW „- Neugier genügt – Sendung – WDR 5 – 27.11.2020 und Ingo Zander: „Raus aus der AfD“ – Neugier genügt – Sendung – WDR 5 – 23.09.2020.

[6] Zitiert nach einer Rezension des Autors: Ingo Zander. 2007. Joe Boyd: White Bicycles. Musik in den 60er Jahren. Kunstmann, München 2007. In WDR 3 Resonanzen, 18.10.2007.

Quellenverzeichnis

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De Benoist, Alain. 2018. Kulturrevolution von rechts. Dresden: Jung Europa.

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Zitiervorschlag

Zander, Ingo. 2022. „Transformational POP: Die ‚Identitäre Bewegung‘ als juvenil-urbane Kulturrevolution von rechts.“ In Transformational POP: Transitions, Breaks, and Crises in Popular Music (Studies), herausgegeben von Beate Flath, Christoph Jacke und Manuel Troike (~Vibes – The IASPM D-A-CH Series 2). Berlin: IASPM D-A-CH. Online unter http://www.vibes-theseries.org/zander-kulturrevolution.

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Titelbild: Steve Johnson, Unsplash


Abstract (English)

This essay examines the ideological background of the connection between culture and politics that the far-right Identitäre Bewegung in Germany refers to and how they are used and further exploited by right-wing actors. The focus is on the question of which transformation processes are triggered in the process and whether – or to what extent – a cultural revolution „from the right“ is taking place in Germany. First, the ideological founding fathers of the Identitäre Bewegung, Alain de Benoist and Henning Eichberg, will be introduced and then the history of the Identitäre Bewegung since the noughties will be presented. Finally, pop cultural examples are used to analyse how pop – and pop music – is framed and ideologically targeted by right-wing extremist activists.