Sarah Chaker und Michael Huber mit Amira Ben Saoud, Esra Özmen und Anne Wiederhold-Daryanavard
For this article, Sarah Chaker and Michael Huber prepared, moderated and contextualized a panel discussion that took place at the conference “Parallel Societies – Effects of Structural Juxtapositions on Popular Music, Its Research and Mediation” on 22 October 2022 at the mdw – University of Music and Performing Arts Vienna. The aim of both this event and the contribution is to make voices from Austrian (popular) musical life heard in the debate on “parallel societies”. With Amira Ben-Saoud, Esra Özmen and Anne Wiederhold-Daryanavard, prominent representatives of contemporary music life discuss the conference topic from various fields and viewpoints – cultural journalism, event management, popular music production and transcultural cultural mediation – thus providing vivid insights into their everyday professional lives, while also discussing observed or personal experiences of social inequality in everyday life and the (popular) music world. Another focus of the discussion was on the individual, subjective and professional strategies our panelists have developed to counter constructions and effects of „parallel societies“.
Für eine umfassende und fundierte Erforschung populärer Musik, die ihrer Komplexität gerecht wird, ist nicht nur der intensive inter- und transdisziplinäre Austausch unter Fachkolleg*innen wichtig – unabdingbar ist auch die beständige Pflege von Beziehungen und Kontakten zu all jenen Menschen, die mit populärer Musik umgehen – diese im Alltag hervorbringen, verbreiten, sich aneignen. In dieser Angelegenheit sind sich die beiden deutschsprachigen Vereine, die die Erforschung von populärer Musik zu ihrer zentralen Agenda gemacht haben, einig. So betont IASPM D-A-CH in seinem Mission Statement, „[i]n der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit populärer Musik […] ausdrücklich in den Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern der künstlerischen Praxis, der Kulturpolitik, der Musikwirtschaft und der Medien“[1] treten zu wollen und verpflichtet sich ferner unter dem Stichwort der Interprofessionalität zur gezielten „Förderung des Austauschs zwischen Wissenschaft und künstlerischer, wirtschaftlicher, medialer, politischer und bildender Praxis“[2]. Die GFPM wiederum unterstreicht auf ihrer Webseite unter dem Lemma „Vielfalt“ die Notwendigkeit, dass in der Vereinsarbeit „Expert*innen aus der Praxis auf Wissenschaftler*innen aus zahlreichen Disziplinen, von Musikwissenschaft und Musikpädagogik über Cultural Studies, Sound Studies und Sprachwissenschaften bis hin zum Journalismus, der Publizistik oder der Musikwirtschaftsforschung“[3] treffen können, um in Forschung und Vermittlung der vielseitigen Praxis populärer Musik genügen zu können.
Um diesem geteilten Selbstanspruch im Rahmen der Tagung nachkommen zu können, haben wir uns als Tagungsveranstalter*innen dazu entschlossen, eine Podiumsdiskussion zu organisieren, um so in der Debatte um „Parallelgesellschaften“ Stimmen aus dem österreichischen Musikleben gezielt Raum zu geben. Bei der Auswahl unserer Gäste war für uns leitend, dass sie das Tagungsthema „Parallelgesellschaften“ aufgrund ihrer beruflichen Erfahrungen von verschiedenen Feldern und Standpunkten aus – u.a. Kulturjournalismus, Veranstaltungsmanagement, populäre Musikproduktion und transkulturelle Kulturvermittlung – diskutieren können. Wir haben uns mit unserer Einladung außerdem gezielt an Menschen gewandt, die sich in ihrer Berufspraxis in unterschiedlichen künstlerisch-kulturellen Zusammenhängen bewegen und damit wissen, was es heißt, in der alltäglichen Arbeitspraxis beständig zwischen verschiedenen Gruppen und Interessen zu vermitteln. Auch musikstilistisch sind unsere Diskutant*innen unterschiedlich und breit aufgestellt. Als – zum Teil – Angehörige der sogenannten ‚freien‘ Szene (ein Euphemismus, der wohl über die nicht selten entgrenzten, unsicheren und prekären Arbeits- und Lebensbedingungen der dort Tätigen hinwegtäuschen soll) sind ihre Arbeitszusammenhänge zwangsläufig projekthaft, vielfältig und unbeständig/flexibel, wobei uns die hieraus resultierenden vielfältigen Erfahrungswerte im Hinblick auf mögliche strukturelle Parallel- bzw. Mehrgleisigkeiten im Feld der populären Musik interessierten. Wir erwarteten uns im Rahmen der Podiumsdiskussion dementsprechend anschauliche Einblicke in den jeweiligen Berufsalltag unserer Gesprächspartner*innen, wie wir auch an beobachteten oder selbst erlebten Erfahrungen mit sozialer Ungleichheit interessiert waren. Des Weiteren ging es uns darum, mit den Podiumsteilnehmer*innen zu eruieren, inwieweit sich mögliche bestehende Parallelstrukturen und -konzepte (soziale Blasen, Denkfiguren, Systeme, Netzwerke) auf individuelle und kollektive Gestaltungsspielräume und die aktuelle (populäre) Musikpraxis niederschlagen. Ein weiterer Themenschwerpunkt in der Diskussion bezog sich darauf, welche individuell-subjektiven und professionellen Strategien unsere Diskutant*innen womöglich entwickelt haben, um parallelweltlichen Konstruktionen zu begegnen. Unsere Gesprächspartner*innen waren:
- Amira Ben Saoud [ABS] studierte klassische Philologie, Kunstgeschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und begann im Jahr 2013 für das österreichische Popkulturmagazin The Gap zu schreiben. 2015 veröffentlichte sie den satirischen Haiku-Lyrikband Wie man hassen soll und wurde im gleichen Jahr von der Branchen-Publikation Der österreichische Journalist zu einer der besten Journalist*innen unter 30 Jahren gewählt. Von 2016 bis 2017 war sie Chefredakteurin von The Gap, danach übernahm sie die Programmleitung des feministischen, kollaborativen RRRIOT Festivals. Seit dem Jahr 2019 arbeitet sie für die österreichische Tageszeitung Der Standard als Kulturredakteurin mit Fokus auf den Bereichen Popkultur und Kunst. Aktuell schreibt sie an ihrem Debütroman, für dessen Fertigstellung sie das Hans Weigel-Literaturstipendium des Landes Niederösterreich 2021/22 erhalten hat.
- Esra Özmen [EÖ] ist Rapperin, bildende Künstlerin, Performerin, Songwriterin, Kulturarbeiterin und Workshop-Leiterin in Rap/Gesang/Reimen/Texten. Sie absolvierte ihr Studium 2016 an der Akademie der bildenden Künste Wien in der post-konzeptuellen Kunst-Klasse. Gemeinsam mit ihrem Bruder Enes bildet sie das Duo EsRAP. Die beiden Geschwister beschäftigen sich in ihren gemischt deutsch/türkischen Texten mit Fragen der Identität, dem Fremdsein im eigenen Land als Kinder der dritten Generation, der am eigenen Leib erfahrenen Notwendigkeit des Aufbegehrens, mit Rap als Widerstand und auch dem Frau-Sein in einer männerdominierten HipHop-Welt. Im Gegensatz zur üblichen Rollenaufteilung steuert Esra in der Formation die harten und schnellen Reime bei, während Enes mit seiner feinfühligen Stimme die melodischeren Vokalparts übernimmt. Damit zeigen EsRAP, wie über ein Medium wie Rap auf politische und gesellschaftliche Problemstellungen reagiert und Widerstand geleistet werden kann und wie man/Frau sich Gehör verschaffen kann. Musikalisch finden EsRAP Inspiration im türkisch-orientalischen Genre Arabeske, das sie gerne mit modernen Beats verbinden. Nach einigen Eigenreleases auf digitalen Kanälen veröffentlichen EsRAP seit 2018 auf dem Berliner Label Springstoff. Ihr Debutalbum Tschuschistan (2019) wurde vom Österreichischen Musikfonds gefördert. 2022 erschien das zweite EsRAP-Album Mamafih. 2020 und 2021 kuratierte Esra Özmen außerdem das Popfest Wien, gemeinsam mit Herwig Zamernik aka Fuzzman.
- Anne Wiederhold-Daryanavard [AWD] ist Kuratorin, Schauspielerin, Organisationspsychologin sowie Mitgründerin und Künstlerische Leiterin der Wiener Brunnenpassage[4]. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Formatentwicklung transkultureller Kunst, im Bereich der sozial engagierten Kunst, in der Diversitätsentwicklung in der Kulturpolitik sowie im experimentellen und dokumentarischen Theater. Wiederhold-Daryanavard arbeitet als Jurorin sowie in Gremien u.a. für die Europäische Kommission als Expertin für Diversität im Kulturbetrieb. Sie wird national und international für Vortragstätigkeiten und Beratungen angefragt. Seit 2020 ist sie Mitglied des Stiftungsbeirats des Volkstheater Wien. Zudem ist sie Co-Autorin des Buches Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft. Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien (2021, Hg. mit Ivana Pilić, Bielefeld: transcript).
Im Folgenden dokumentieren wir die Podiumsdiskussion, welche am 22. Oktober 2022 zwischen 14.00 und 15.30 Uhr an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien stattfand, in leicht gekürzter und sprachlich geglätteter, inhaltlich jedoch unveränderter Form.[5]
Sarah Chaker [SC]: Anne, du bist unglaublich vielseitig, nämlich Schauspielerin, Organisationspsychologin und vor allem, und deswegen haben wir dich auch hauptsächlich eingeladen, Mitbegründerin und künstlerische Leiterin der Brunnenpassage. Das ist ein ganz spezieller Ort im 16. Wiener Gemeindebezirk. Kannst du zu Beginn ein paar Worte zur Brunnenpassage sagen?
AWD: Hallo und schönen guten Nachmittag, vielen Dank für die Einladung. Die Brunnenpassage ist ein Veranstaltungsort am Brunnenmarkt, dem längsten Straßenmarkt Europas. Der Brunnenmarkt ist auch der Markt Nr. 1 in Wien, ich glaube mit derzeit 80.000 Passant*innen pro Woche, also größer als der Naschmarkt. Und dennoch ist es so, in Wien, wie wir alle wissen, haben wir den Stephansdom genau im Zentrum, dann den Ring, in dem die „Tempel der Kunst“ liegen, dann haben wir den sogenannten Gürtel und dann haben wir die Außenbezirke. Wir reden heute über Parallelwelten – auf jeden Fall, der Brunnenmarkt ist wirklich eine Parallelwelt. Menschen aus aller Welt leben dort, unwahrscheinlich crowded, lebendig, vielfältig, und wir sind eben eine große Markthalle direkt auf dem Yppenplatz. Wir sind ein diskriminierungskritischer Kunstort und es geht uns sehr stark um Intervention in den Kultursektor, das heißt wir kooperieren dort vor Ort sehr viel mit Menschen aus der Nachbarschaft, wir bringen Kunst verschiedenster Sparten mit hoher Qualität in diese Markthalle. Alles ist auf dem Pay-As-You-Can-Prinzip aufgebaut, also sehr einfach zugänglich, es ist ebenerdig, gläsern, und wir arbeiten in strategischen Partnerschaften mit den sogenannten etablierten Kulturinstitutionen der Wiener Innenstadt. Wir haben ein ganz diverses Team, ich glaube mit 19 Sprachen momentan im Personal und über 400 Veranstaltungen im Jahr, dabei sehr viel in Zusammenarbeit mit vielen großen Institutionen, im Musikbereich beispielweise mit dem Wiener Konzerthaus und aktuell mit dem Wiener Musikverein, also von Grassroots in der Markthalle, „auf der Straße“, bis zu einem der hochkulturellsten Orte der Welt, dem Musikverein.
SC: Ihr kommt ja aus unterschiedlichen Feldern, trotzdem kennt ihr euch alle, haben wir gerade festgestellt, auch schon seit einiger Zeit. Wir haben mit unseren Kolleg*innen hier schon drei Tage über „Parallelgesellschaften“ in der populären Musik gesprochen, ein polemischer Begriff, auch ein schwieriger Begriff, wir wollen mal ganz offen in die Runde fragen: Wie geht es euch diesbezüglich? Sind euch Parallelstrukturen, „Parallelgesellschaften“ in eurer Arbeitspraxis begegnet und wenn ja, auf welche Weise?
EÖ: Eine ganz große Frage. Ich glaube, ich lebe in Parallelgesellschaften schon seit ich ein Kind bin. Also meine Eltern kommen aus der Türkei und für mich war die erste Parallelgesellschaft – also, dass ich gemerkt habe, dass es Parallelgesellschaften gab – das war das Schulsystem. Hier ist es so: Wenn du gut bist, gehst du nach der Volksschule ins Gymnasium und wenn du nicht so gute Noten hast, gehst du in die Hauptschule. Und ich war damals in der Hauptschule mit nur Migranten, es war ein Österreicher in der Klasse, der wollte nicht mehr dort sein und ist dann gegangen. Es waren nur Migranten in der Klasse. Aber wenn du weiter studieren möchtest, oder was weitermachen möchtest, musst du ins Gymnasium überspringen. Das passiert schon immer wieder, aber nicht so oft, und ich habe den Sprung geschafft und war dann die einzige Migrantin in der Klasse. Und dann war das erst für mich so: Okay, das sind Parallelgesellschaften, womit ich mich zum Beispiel sehr, sehr schwergetan habe. Es waren wirklich zwei Welten. Und dann kurz zum Kulturbereich: Als ich begonnen habe zu studieren, war das für mich dann auch eine ganz andere Gesellschaft. Man denkt sich bei „Parallelgesellschaften“: Das meint Migranten – Nicht-Migranten. Und auf einmal war es Künstler – Nicht-Künstler. Und dann war ich in einer Klasse voller Künstler, und ich komme aus einer Familie, die mit Kunst nichts zu tun hat, also ich habe die akademische, künstlerische Sprache gar nicht verstanden. Das war so die dritte Parallelgesellschaft für mich. Und dann hat immer wieder die Musikbranche Parallelgesellschaften. Ich habe noch nie so viele weiße Männer auf einem Haufen gesehen, eine andere Parallelgesellschaft, und dann hast du aber so People of Color-Communities, wo du dir so denkst: „Wow, das gibtʼs auch!“ Und das ist auch eine Parallelgesellschaft, auch für mich. Also es gibt sehr viele Parallelgesellschaften. Für mich ist es einfach schön, wenn sie ineinander funktionieren.
SC: Ist der Begriff für dich eher negativ oder neutral oder vielleicht sogar positiv-produktiv besetzt?
EÖ: Ich finde, wenn es eine Entscheidung ist, in dieser Parallelgesellschaft zu sein, finde ich es auch manchmal schön. Es ist sehr wichtig, dass du eine Community hast, die dir sagt: „Du bist richtig, wie du bist.“ Also wenn man das Anders-Sein-als-Andere sieht und nicht vergleicht mit sich selber, dann passt das, glaube ich. Aber wir vergleichen uns leider. Der Mensch ist – wir haben die Neigung, deswegen finde ich es für den Selbstwert wirklich sehr wichtig dort zu sein, was du spürst: Was du isst, was du riechst, deine Kultur – das ist auch sehr schwierig zu definieren, aber wichtig – es muss deine Entscheidung sein.
Michael Huber [MH]: Anne, du hast ja permanent mit ganz vielen unterschiedlichen Kulturen zu tun, in deiner Arbeit in der Brunnenpassage. Wenn man dich jetzt so schnell fragt: „Sind das Parallelgesellschaften, die du zusammenführst und deren Begegnung du ermöglichst und initiierst?“ Würdest du das so bezeichnen? Wie erlebst du die unterschiedlichen Kulturen, die bei euch zusammenkommen?
AWD: Ich finde den Begriff – eigentlich würde ich den sonst nicht so verwenden – eher negativ. Also, wenn man mich fragen würde, was ich damit assoziiere: die Zeit der Parallelgesellschaften ist irgendwie – vorbei. Für uns ist der Ort der Brunnenpassage eigentlich ein shared space. Also ein Raum, wo eine ganz neue Form der Begegnung, und zwar künstlerisch, kreiert wird. Das heißt, es geht eben nicht um Parallelgesellschaften oder um Multikultur. Welche Kultur hast du, welche hast du? Denn sowas ist auch schon vorbei, aber immer noch total da in den Köpfen, in allen, und es geht darum, das aufzubrechen. Es geht auch nicht mehr nur um Interkultur. Also bei der Europäischen Kommission war ich in dieser Expert Group mehrere Jahre und da ging es auch immer um intercultural dialogue und die Frage, wie die großen Institutionen, in dem Fall der EU wie die Mailänder Scala oder die Dresdner Semperoper oder wer auch immer, wie die zu einem Interkulturellen Dialog beitragen können. Oder was müssen sie beitragen, weil sie ja eine große gesellschaftliche Verantwortung tragen. Da stecken ja Millionen von Steuergeldern drin. Und interkultureller Dialog ist – da fängt es an interessant zu werden und da fängt es an, dass Parallelgesellschaften aufgebrochen werden – das ist eben nur ein Dialog. Deswegen arbeiten wir derzeit – weil Begriffe und Gesellschaften sich ja auch ändern – mit dem Begriff der Transkultur. Transformation der Kulturen zu etwas Neuem mit allen Eigenheiten involviert. Also z. B. wie klingt denn eigentlich Wien heutzutage in der Musik? Das ist ja nicht mehr möglich zu sagen: Na, wir haben die klassische E-Musik, dann haben wir diese Musik und so weiter. Das finde ich eigentlich künstlerisch nicht interessant. Dieser shared space, der auch ein Begriff war bei dieser EU-Kommissions-Expert Group, da war die Frage: Wo gibt es diese Begegnungsräume? Und ich glaube, wir brauchen viel mehr dieser Räume, experimentelle Orte. Wir empfinden uns auch als ein Lab, eine lernende und verlernende Institution. Wir bemerken auch ganz viele Fehler, die wir machen, weil es gibt ja auch kein Patentrezept wie dieser Paradigmenwechsel im Kultursektor hin zu gelebter Transkultur eigentlich vonstattengehen könnte. Weil das ist ja seit Jahrhunderten so, dass es diese Bewertung gibt: Was ist Exzellenz, wer gehört dazu und wer nicht? Und dieser Ausschluss. Das ist wahnsinnig patriarchal, wahnsinnig westlich und weiß geprägt. Der Stimmton A, mit dem wir uns zum Beispiel mit dem Wiener Musikverein gemeinsam befasst haben, der wurde unter anderem in Wien hier festgelegt, also wie dieses A klingt. Das hat natürlich einen gewissen Sinn, damit Menschen miteinander musizieren können. Gleichzeitig meine ich: Was soll das? Weil es gibt auch ganz andere A-Töne, das muss ich in diesem Raum hier nicht erläutern. Und diese shared spaces, da stellt sich für uns – und ganz stark im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit Esra – da ist dann die Frage: Ist es ein safe space oder ein brave space, dieser shared space? Ein art space, wo ich mich trauen kann, etwas Neues auszuprobieren, wo ich mal einfach so sein darf, wie ich bin? Mit meiner vielleicht eigenen, bisher marginalisierten Hörweise von Musik. Wo ein Instrument gespielt werden darf, was bisher keine Anerkennung hat in Wien. Ich weiß zum Beispiel, dass Harri Stojka eine Musikschule in Wien aufbauen wollte, mit Roma-Musik. Es war vom Musikgesetz in Österreich her nicht erlaubt, weil sie ohne Noten unterrichten. Und auch da denke ich mir: Wo sind wir? Das heißt, es braucht diese safe spaces, die aber gleichzeitig öffentliche Orte sind. Wir mit der Brunnenpassage sind beides. Wir sind ein safe space und ein public space. Wir sind ein ganz normaler öffentlicher Kunstort, bei uns spielt das Klangforum Wien und am nächsten Tag spielen sie in der Elbphilharmonie in Hamburg. Nur sind die Bedingungen bei uns komplett andere. Aber das heißt für mich: Weg von der Parallelgesellschaft und diesem Parallel-Denken – „jetzt mache ich so Diversity-Projekte“ –, das ist vollkommener parallelgesellschaftlicher Blödsinn. Weil der Ausschluss findet weiterhin die ganze Zeit statt, wenn geframed wird: „Ja, euch veranstalten wir im Diversity-Bereich, da hätten wir euch gerne.“ Es geht darum, die aktuelle weltweite, plurale, transkulturelle, gesellschaftliche Realität in die DNA der Kultur-Institutionen hereinzuholen.
Abb. 1: Yo-Yo Ma während seines Auftritts in der Brunnenpassage in Wien im Jahr 2019 (© Brunnenpassage Wien).
SC: Ihr macht etwa 400 Veranstaltungen im Jahr in der Brunnenpassage, und das seit ungefähr 15 Jahren. Das ist etwas Seltenes. Oft gibt es sonst so Spezialprojekte und das Problem ist, die sind dann oft nicht nachhaltig. Also es braucht eigentlich wirklich so eine kontinuierliche Linie. Ketzerische Frage: Wie wird die Brunnenpassage eigentlich finanziert? Wie ist das gegangen damals?
AWD: Es war ein langer, langer Weg, weil die Leute uns nicht einordnen konnten. Weil – wie gesagt – Off-Off-Szene könnte man sagen, direkt am Markt, Markthalle und so. Als wir angefangen haben, hatten wir gar nichts, da sind noch die Mäuse durchgerannt, das war wirklich einfach eine Markthalle. Und gleichzeitig geht das in den Köpfen nicht zusammen, dass wir jetzt eben diese strategische Partnerschaft mit dem Wiener Musikverein haben, die entstand, weil Yo-Yo Ma, der weltberühmte Cellist, auf seiner Welttournee gesagt hat, er möchte überall auf der Welttournee auch einen „Day of Action“ machen, wo er zu den Menschen rausgeht. Ich glaube, manchmal halten es die Künstler*innen selbst nicht mehr aus, in diesem goldenen Käfig zu sein. Da stand die Agentur dann vor unserer Tür und hat gesagt: „Wir würden gerne bei euch ein Konzert geben!“ Ich habe es nicht glauben können, und dann war er da. Und der damals neue Intendant des Musikvereins, Stephan Pauly, hat sich kurz danach gemeldet: Er würde gerne mit mir Mittagessen gehen. Nach 37 Jahren kam ein neuer Intendant an den Wiener Musikverein, und er möchte nun vieles ändern. Und das ist wirklich toll und es ist aber auch unglaublich schwer. Das [Musikleben] ist nichts, was man mal eben ändert. Das sind weite Wege, da braucht es einen langen Atem. Das ist sozusagen weiter auseinander als ‚Parallelgesellschaften‘: Die Brunnenpassage und der Musikverein. Aber er hat gesagt: „Ihr kriegt den Goldenen Saal.“ Den goldenen Saal, den man aus dem Neujahrskonzert kennt. „Und ihr könnt dort kuratieren!“ Also das ist ein Traum und gleichzeitig ist da diese Herausforderung der Nachhaltigkeit. Das war der Beginn der Zusammenarbeit. Weil es ihm auch darum geht, ja, nicht ein einzelner Leuchtturm in dieser Hinsicht zu sein, sondern auch miteinander zu lernen, langfristig; das ist sehr, sehr schwer. Weil du wegen der Finanzierung gefragt hast: Es ist nicht easy. Wir haben, glaube ich, acht verschiedene Fördergeber: Kulturgelder der Stadt Wien, Diversitätsabteilung Stadt Wien, Kulturministerium Österreich, EU-Fördergelder, Stiftungen, Sponsoren, private Spenden. Ganz ungewöhnlich ist die Trägerstruktur von uns, wir sind eine Submarke der Caritas. Die sind damals auf mich zugekommen und haben die Brunnenpassage initiiert. Was eigentlich ziemlich genial ist, muss man über die Jahre sagen, weil das Gebäude ist gekauft, der Boden ist gekauft, die Caritas ist eine sehr engagierte, zukunftsorientierte NGO. Viele wissen das nicht, dass wir zusammenhängen, das ist eine große Absicherung und Freiheit – aktuell ein Fünftel des Budgets.
MH: Amira, aus deiner Sicht, glaube ich, sieht gerade alles ganz anders aus, sagt mir mein Vorurteil über journalistische Arbeit. Also da ist nichts mit Transkultur und shared space und so, sondern ich stelle mir das so vor: Ihr wählt gezielt Themen aus, über die ihr schreibt, und dann erfolgt mit dieser Beschreibung natürlich auch eine Bewertung und in diese Bewertung fließen natürlich auch Kategorien ein und mir fällt gerade ein – da war einmal, glaube ich, vor einem halben Jahr eine Diskussion mit deiner Beteiligung „Baby Boomer versus Millenials“ oder irgendwie so etwas. Es ist ja ganz eine entscheidende Frage: Für wen schreibe ich als Journalistin? Wer soll meine Texte lesen, gut finden, verstehen usw.? Und was mache ich, wenn ich da Dinge bespreche, die die anderen entweder gar nicht oder falsch verstehen? Wie sehr prägt das deine Arbeit?
ABS: Ja, also, das ist meine Arbeit. Das prägt meine Arbeit, das ist die ganze Zeit ein Thema, du hast es komplett richtig zusammengefasst. Dadurch, wie sich die Musikindustrie, die Popmusikindustrie in den letzten 20 Jahren – besonders mit Hinblick auf Streaming – verändert hat, da ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das wissen viele Leute, die in diesem Job arbeiten, die im Journalismus arbeiten, wollen es aber immer noch nicht so ganz wahrhaben. Musikkritik, die wurde ja erfunden um Leuten, die den Zugang zu Musik jetzt nicht sofort so haben, zu erklären, wie etwas klingt, damit sie wissen, ob sie sich das kaufen sollen oder nicht. Ob ich zum Mediamarkt gehen kann, ob ich mir die CD holen soll oder nicht. Das fällt einfach durch Streaming jetzt einmal völlig weg. Oder auch durch YouTube, weil ich einfach nur einen Klick entfernt bin und mir das selbst anhören kann. Natürlich gibt es in der Popmusik auch Dinge, die man erklären muss – zum Beispiel musikalischer Natur – aber vor allem hat sich sehr stark geändert, dass man versucht, den Künstler, die Künstlerin, mehr zu kontextualisieren, mehr auf die Inhalte zu gehen. Und die Vorwürfe, mit denen ich dann auch oft sehr stark konfrontiert bin, sind: „Ja, aber du schreibst nichts über die Musik, du schreibst ja nur darüber, was sie anhat, oder wie steil die auf TikTok geht!“ Aber das ist nun mal wichtig, wie steil die auf TikTok geht. Wie funktioniert so eine Marketing-Strategie, dass jemand, der am hintersten Rad sitzt, auf einmal Nummer Eins in den Charts ist? Das ist etwas, was mich interessiert. Was jetzt in den letzten Jahren eben noch passiert ist, ist, dass Musikkritik immer eine männlich dominierte Nerd-Kultur war. Es gab all diese spezifischen Hefte, Popkulturhefte wie Spex und so, die gibt es einfach nicht mehr. Diese Art von Musikberichterstattung wurde quasi von Tageszeitungen, Wochenzeitungen – wie unserer – aufgefangen. Und natürlich auch nicht mit demselben Tiefgang. Weil wir ja auch eine ganz andere Zielgruppe haben. Jetzt haben wir Streaming, wir haben Medien wie Instagram, wie TikTok, auf denen eine junge Generation einfach gar nicht heiß darauf ist, dass ihnen erklärt wird, was die Gatekeeper denken. Die interessieren sich nicht für Gatekeeper. Die wollen sich nicht sagen lassen: „Hör dir das an!“ bzw. wollen sie es sich schon sagen lassen, aber von einem Algorithmus, das ist der Gatekeeper. Das heißt, ich habe auf der einen Seite die Kids, die sich auskennen und denen muss ich nicht Interkulturalität oder Transkulturalität erklären, die sind damit aufgewachsen, denen muss ich das nicht erklären. Ich muss eher 60-jährigen Männern erklären, wie diese andere Welt da aussieht. Und denen muss ich natürlich dann auch sowas erklären: Was ist EsRAP, was wollen die? Und natürlich kann ich ihnen erklären: Die mischen da jetzt türkische Musik mit deutscher usw. Aber bei EsRAP geht es ja auch um mehr. Das ist auch ein politisches Statement, würde ich jetzt mal sagen, da gibt es eine Geschichte, die sich zu erzählen lohnt, und natürlich wissen viele junge Künstler*innen auch, dass sie in der Musikbranche ohne so eine Geschichte auch überhaupt keine Chance haben. Es reicht einfach nicht mehr, wenn die Musik gut ist. Es geht um Erzählungen, und wer das nicht versteht, dass wir nicht mehr darüber reden, ob quasi jetzt eine Geige, eine Bratsche oder was auch immer auf dem Track vorkommt, dem kann ich auch nicht mehr helfen. Das ist meine Einstellung dazu.
MH: Danke. Aber für wen schreibst du dann? Schreibst du dann für die Leute, die den Standard lesen und gar nicht das lesen wollen, was du ihnen schreibst, oder für die, die den Standard nicht lesen, weil du die ja ansprechen willst? Das stelle ich mir schwierig vor.
ABS: Es ist auch schwierig, den Grat zu finden, dass es beiden tendenziell gefallen kann. Eine Frage, die ich mir sehr oft stelle, ist: Was passiert, wenn die Leute, die jetzt den Standard lesen, irgendwann nicht mehr da sind? Wie können wir dann eine junge Generation überhaupt an so etwas wie eine Zeitung – da rede ich jetzt noch nicht mal von Print – aber wie können wir die überhaupt dafür noch interessieren? Und natürlich, wenn ich vierzehn wäre, würde ich mir auch nicht sagen lassen, wie ich das Billie Eilish-Album zu finden habe. Aber es ist natürlich eine Frage, die ich mir sehr oft stelle: Wie kann ich für euch [für die junge Generation] etwas finden, das euch trotzdem interessiert? Das ist nicht einfach.
MH: Frage an die anderen beiden Podiumsdiskutant*innen: Habt ihr Ideen, wie die Probleme, über die wir jetzt gesprochen haben, die Unvereinbarkeiten, wie man die überwinden kann?
ABS: Ich muss trotzdem noch einen kurzen Gedanken nachschießen. Ich glaube, was wir schon tun können und was ich auch versuche: Wir haben in Medien das ganz große Problem, nicht nur in der Musik- oder Kulturberichterstattung, dass wir oft über bestimmte Gruppen reden, aber eben nicht mit ihnen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, das zu tun, also Leute für sich selbst sprechen zu lassen. Es gibt zahlreiche Interviewformate, mit denen man das auch spannend und lustig oder interessant gestalten kann. Das interessiert nämlich – also, eine Person, die EsRAP hört, interessiert sich natürlich deutlich mehr dafür, was du, Esra, sagst als das, was ich sage. Also wenn ich dir als Medium mit einer großen Reichweite diese Möglichkeit geben kann, dann sollte ich das auch tun. Auch wenn es dann nicht immer deine Fans erreicht.
EÖ: Aber was ich da ehrlich sagen muss: Es bringt auch etwas, auch wenn es meine Leute nicht erreicht. Am Anfang haben sie mich nicht ernst genommen, da braucht man diese großen Player. Die Wiener Festwochen haben mir eine E-Mail geschickt – die Leute waren ganz anders: „Respekt, schön, mach da weiter!“ Auch meine Community ist so dahinter: „Wow, schau mal, der Standard!“ Es erreicht meine Leute auf eine ganz andere Weise. Weißt du, ich bekomme dadurch so ein Image: „Esra hat es geschafft.“ Und das muss ich sagen, das braucht man. Da kann man hin und her reden, aber vor allem für Migranten, Leute die es schwer haben im Kunstbereich – wenn du da mal hinkommst, dann ändert das dein Leben, das muss man sagen, im Positiven.
ABS: Es ist sehr wichtig für Geld auch. In sogenannten Qualitätsmedien vorzukommen ist für Förderungen wichtig.
EÖ: Und es gibt zwei Images. Man muss überlegen: Welches davon will ich? Also, ich bin im Standard, Wiener Festwochen, Pop Fest, wow, und dann habe ich auf TikTok 400 Likes. Da sagen die Kinder: „Du hast doch noch nichts geschafft in deinem Leben!“ Es gibt diese TikTok-, Internet-, Instagram-Schiene, wo man nur auf Likes schaut. Das ist dann dein Image.
SC: Es hat sich jetzt schon so angedeutet – ihr seid recht gut vernetzt und ihr macht ganz verschiedene Dinge. Esra, du warst ja auch Kuratorin vom Wiener Pop Fest. Wie hast du denn diese spezielle Position genutzt um mal zu sagen: „Jetzt läuft es mal anders als es sonst läuft“?
EÖ: Das ist leider nicht so leicht. Die ganze Kunstszene hat sich auch gedacht: „Okay, Esra, da geht was, und das Pop Fest wird ganz anders.“ So leicht ist es leider nicht, weil es einfach die Strukturen gibt. Und das hat mich auch sehr traurig gemacht, weil ich bin selbst im Jugendzentrum großgeworden, habe selbst im Jugendzentrum begonnen, Musik zu machen und ich wollte Kinder auf der Bühne, die Musik machen. Du kannst aber ein 15-jähriges Kind mit zwei Songs nicht auf eine fette Bühne stellen.
SC: Da kommt ja schon ein bisschen raus, wie wirkmächtig Strukturen und Institutionen sind und teilweise auch verhindern, dass da so schnell etwas weitergeht wie man es sich vielleicht wünschen würde.
AWD: Ich sage ja: Shared spaces und neue Institutionen. Die Frage ist: Was machen wir mit den bestehenden Institutionen, weil die sind ja auch ganz toll. Da ist ja auch ganz viel gewachsen. Nur ist es eben jetzt einfach auch an der Zeit, sie komplett zu ändern. Das muss dabei vor allem gesagt werden: Es braucht auf allen Ebenen diese Veränderungen. Dass da wirklich ein diverser Beirat über die Gelder entscheidet, das ist so ein Ding. Und das Personal in all den Häusern. Also wir werden so viel – national und international – für Beratung angefragt, weil die Leute alle nicht wissen, wie sie die Bevölkerung heutzutage überhaupt erreichen können. Sie wissen nicht wie. Dann sage ich immer: „Ja, dann macht mal nicht Outreach, sondern machen wir erst einmal Inreach. Schaut euch jetzt erstmal bei euch das Personal an.“ Das Personal ist eigentlich der Schlüssel. Also ich nehme an, dass wir in der Brunnenpassage wahrscheinlich der diverseste Staff einer Kulturinstitution in Wien sind, ich rede jetzt von der Kurator*innen-Ebene und Entscheidungs-Ebene. Aber trotzdem ist im Kulturbereich immer dieses Denken in Sparten oder auch eben immer noch dieses parallele Denken: „Ah ist es jetzt ein Diversity-Projekt, dann schreibt in den Redaktionen vielleicht am besten mal wer im Integrationsbereich darüber?“ Das passiert ständig, immer noch. Also, dass die Dinge, die nicht einzuordnen sind, dass es die Annahme und das Vorurteil gibt, das sei eben nicht exzellent, und das ist echt pervers. Und das ist wirklich in den Köpfen drin. Und ich glaube auch, von klein auf wird dieser Klassismus, diese Art des Denkens und Hörens, das wird einfach so eingeübt. Veränderung dauert dadurch, aber es braucht absolut neue Institutionen, um die alten Institutionen upzudaten.
SC: Vielleicht, um noch einen Punkt anzuhängen, bevor wir die Runde für Fragen aus dem Publikum öffnen: So zum Spielraum, und da auch mal Fehler zuzulassen. Ich habe das Gefühl, wir leben in einer Gesellschaft, in der alles tipptopp sein muss. Da ist kein Raum, dass da mal etwas in die Hose geht, etwas nicht funktioniert, dass man sich missversteht. Da würden mich eure Erfahrungen einmal interessieren, weil ihr versucht da ja auch vieles. Kommt ihr gut damit klar oder gibt es Schwierigkeiten? Kann man Strategien entwickeln, mit Fehlern kompetent umzugehen?
Abb. 2: „Songs of Nature“-Konzert im Rahmen von Wien Modern in der Brunnenpassage Wien im Jahr 2015 (© Brunnenpassage Wien).
AWD: Also, danke für die Frage. Weil ich glaube, das ist etwas, was generell im Kulturbetrieb komplett fehlt. Also die größte Problematik meines Erachtens in der Kunstwelt ist, dass der Kapitalismus die Kunstwelt komplett übernommen hat, das heißt, dass sie so kommerzialisiert ist. Da rennt die ganze Zeit das Ticketing-System: „Kann ich das verkaufen? Kann ich noch andere Bevölkerungsgruppen erreichen?“ Weil die heutigen Abonnent*innen ja mal irgendwann aussterben. Beispiel Musikverein, weil ich das vorhin ein bisschen erläutert habe. Wir haben dann vorgeschlagen: „Pay As You Can“ für den Goldenen Saal, und wir haben gesagt, wir hätten gerne 50:50 im Publikum, also 50% „Stammpublikum“ und 50% neues Publikum, damit es zu einer Begegnung kommt. Es hat überhaupt nicht funktioniert. 95% der Besucher*innen, sagt der Musikverein, sind über uns, über die Brunnenpassage, gekommen. Und der Musikverein hat sich wirklich bemüht! Riesen Plakatflächen, in sechs Sprachen. Wir haben, als die Poster schon im Druck waren, gesagt: „Ihr habt in Arabisch ‚Wiener Stimmen‘ falschrum geschrieben.“ – „Ups, okay, wird noch heute ausgebessert!“ Das heißt, es ist auf so vielen Ebenen ein so weiter Weg, weil die sprachlichen Kompetenzen sind nicht vorhanden, das Bewusstsein ist nicht vorhanden – wirklich, danke für die Frage, wir brauchen Reflexionsraum miteinander und die Bereitschaft für einen jahrelangen gemeinsamen Weg, neue Formate zu kreieren.
[Öffnung der Podiumsdiskussion für Fragen aus dem Publikum]
Frage aus dem Publikum: Ich wollte noch etwas anmerken, was meine Erfahrung ist. Ich finde nämlich, das Publikum in den Musikvereinen, also auch in der Staatsoper, das ist sehr eingefahren, sehr festgefahren, und das Ganze läuft ja in beiden Institutionen über Abo-Systeme, und vielleicht wäre es eine Möglichkeit, die [progressiveren] Veranstaltungen in die bestehenden Abos zu integrieren?
AWD: Das haben wir genau als Forderung, als Vorschlag gehabt, also Pay-As-You-Can-Prinzip bei den Tickets und die Konzerte in bestehende Abos einfügen. Ich sage mal: Wir arbeiten daran, ich könnte darüber stundenlang reden. Es ist nämlich wirklich ein langer Weg, oft sogar ein Kampf, es ist überhaupt nicht einfach, und zwar nicht, weil der Wille nicht da ist, sondern weil die Strukturen noch nicht so sind, die Ticket-Computer nicht so einfach umgestellt werden können und so weiter. Und da ist ja ganz viel Personal, das einfach seit Jahrzehnten da ist, wo es auf so vielen Ebenen wirklich Mut, Experimentierraum, Reflexionsraum braucht, und das ist echt schwer, weil es da ja immer um den Spielbetrieb in den kommenden zwei Jahren geht. Und sich da dann wirklich zu trauen und zu sagen, dass wir ein Try-Out machen und nehmen da etwas ins Bruckner-Abo mit rein, ja, das war genau das Thema bei der letzten Reflexion. Und die Verantwortlichen haben teilweise ganz ähnlich gesagt: Ja, sie haben Angst, „dass das das bestehende Abo schwächt, weil ohnehin Publikumsschwund ist.“ Also es braucht viel Mut von allen Seiten.
EÖ: Eine ganz kurze Sache noch zu dem Thema. Eine Theorie ist, dass man etwas Neues, etwas, was man noch nie gegessen hat, sechs Mal probieren muss, damit man wirklich sicher sein und entscheiden kann: Ist das mein Geschmack oder nicht? Die Musik, die ihr in die Konzerthäuser, Musikvereine reinbringt – das Publikum isst das zum ersten Mal! Man muss das sechs Mal essen, damit man überhaupt sagen kann: „Das schmeckt mir!“ Ich habe diese Musik schon über sechs Mal gehört und ich bin da so: „Wow, wie kann man da nicht hingehen?“ Dafür ist es wichtig, dass Diversität, all diese Musik, die wir normalerweise nicht so viel hören, oft gespielt wird und gezeigt wird, dass wir es genießen können, dass es auch ein Geschmack von uns wird. Und das ist, glaube ich, schwierig. In ein paar Jahren wird das sicher anders ausschauen.
ABS: Was auch wahr ist: Dass Diversität als Buzzword unglaublich beliebt ist. Und wenn sich Institutionen dann denken: „Geil, machen wir was mit Diversität“, wissen sie nicht immer, was das bedeutet. Einerseits ist es sehr trendy, divers zu sein, aber auf einer strukturellen Ebene, auf einer Ebene von Machtverhältnissen, sind wir da noch lange nicht.
Frage aus dem Publikum: Meine Frage geht im Prinzip genau in die Richtung, aber mehr so ein bisschen dahin, ob die etablierten Institutionen auch dann die Skills mitbringen, ein anders Publikum zu bespielen?
ABS: Das ist genau das Problem. Das Wort, das du verwendest, nämlich das Wort des „Bespielens“. Es gibt die Idee von Institutionen, die Ränder der Stadt „zu bespielen“, Kultur wohin zu bringen, so als wären sie Prometheus, der den Menschen das Feuer schenkt. Das wird nie funktionieren. Das kann nicht funktionieren! Es kann nur funktionieren, wenn man mit Leuten arbeitet, die dort schon sind. Man kann nicht einfach Dinge bespielen, das finde ich fast schon übergriffig, ehrlich gesagt.
AWD: Genau, das ist super paternalistisch und Vermittlung in einer ganz furchtbaren Form. Das wird aber ganz viel gemacht und probiert. Aber was wirklich geht, sind diese dezentralen Kulturorte. Isata Kanneh-Mason, eine großartige Schwarze Pianistin aus London, hat zum Beispiel bei uns in der Brunnenpassage gespielt und Esra hat moderiert. Das war richtig geil. Weil nämlich dann Leute vor Ort waren, die sind, glaube ich, vorwiegend wegen Esra gekommen und haben noch nie ein Klavierkonzert gehört und haben euch beiden total viele Fragen gestellt. Der Musikverein hat uns jetzt gefragt, ob wir mit ihm gemeinsam eine Stellenausschreibung gestalten und auch, ob wir die in unseren Kreisen bewerben können. Also es ist ein ganz langsamer Weg, wo es viel um Voneinander-Lernen geht.
EÖ: Und ich glaube, man muss auch annehmen, dass der Weg einfach lang ist. Und annehmen, dass hier Langsamkeit ganz normal ist. Weil, wenn ich jetzt von dezentraler Arbeit in Kunst und Kultur rede: Im 16. Bezirk, wo ich wohne, kommt auch oft Kunst zu uns und ich denke mir nur: „Keiner von uns versteht das!“ Letztens war irgendeine Performance, alle Menschen, es waren so 30 Leute, waren ganz nackt dort, und es ist einfach ein Migrantenbezirk, die so eine Art von Kunst noch nie gesehen haben. Die haben noch nicht einmal hingeschaut. Wenn du rausgehst, dann musst du wissen: Was passiert da?
Frage aus dem Publikum: Also ich habe ein bisschen etwas Polemisches, aber ich würde gerne mit euch darüber reden. Ich komme aus der freien Szene und ich frage mich seit längerer Zeit, weil ich mich auch kulturpolitisch damit beschäftige: Dieses Institutionen-Umbauen: Irgendwie habe ich das Gefühl, in Deutschland deprimiert das alle. Also das 360°-Modell scheitert ja grandios. Für alle, die das Programm nicht kennen: Das ist ein Programm von der Kulturstiftung des Bundes, wo ein oder zwei sogenannte Diversitätsagent*innen in Institutionen eingesetzt werden und die sich dann zwei Jahre lang in ein Burnout hineinarbeiten, und dann gehen sie wieder und das ist super deprimierend. Ich frage mich mittlerweile: Haben die Institutionen dieses Privileg verdient, weiter aufrecht erhalten zu werden, um jetzt weiter mit super viel Personal und super viel finanzieller Sicherheit so sehr an sich selbst zu arbeiten, wenn wir eigentlich wissen: Die Personen, die da jetzt sitzen, haben noch einen super langen Vertrag, obwohl das Personal, das da sein müsste, diverser werden soll, es andere Kenntnisse haben müsste und andere Interessen und viel mehr Motivation? Haben die traditionellen Institutionen wirklich dieses Privileg verdient oder müssten wir nicht alles einreißen und wieder von vorne anfangen?
EÖ: Ich verstehe dich sehr, sehr gut. Ich kenne das Gefühl sehr gut. Ich reiche meine Musik bei Radios ein und sie sagen mir eins zu eins, dass meine Musik zu „tschuschenhaft“ ist, zu „kanakenhaft“, sie spielen es einfach nicht. Also meine Musik wird in Radios unter „Diversität“ gespielt, aber kommt nicht in eine Rotation rein, weil sie sagen: „Das hören unsere Zuhörer nicht!“ Und ich denke mir nur: „Hey, deine Zuhörer sind meine Freunde!“ Ich kenne ja die Leute, die das konsumieren. Da würde ich die Institution Radio auch gerne einreißen, ich denke mir so: „Nieder mit euch!“ Und was man machen muss, und das ist sehr wichtig, ist sich beschweren, beschweren, beschweren. Also, ‚beschweren‘ hört sich jetzt sehr schlimm an, aber irgendwie darüber reden, auch in der Öffentlichkeit, Interviews ausnutzen, jede Möglichkeit ausnutzen um zu sagen: „Das und das ist mir passiert!“ In meiner Philosophie, ich bin Muslima, sagt man: „Wenn man gegen ein Unrecht nichts machen kann, dann muss man es hörbar machen.“ Man redet darüber. Wenn du da nichts ändern kannst, dann musst du zumindest sagen: „Das ist passiert!“
ABS: Ich bin grundsätzlich immer ein bisschen gegen Niederreißen, weil diese Institutionen, von denen wir sprechen, eine gewaltige historische Bedeutung haben. Und wir können eben auch die Dinge, die uns nicht passen, nicht einfach aus der Welt reißen, sondern man kann daran arbeiten, sie zu verändern, und dieser Prozess ist extrem anstrengend und lang und er trifft meistens die falschen Leute, aber irgendwann wird es schon. Niederreißen, das ist der einfache Weg, aber es ist nicht der nachhaltige Weg. Ich finde es immer ganz gut, wenn man Dinge hat, wenn man wirklich physische Objekte hat, die auch historisch sichtbar machen: Vor hundert Jahren hat das dort so ausgeschaut, und wir sind jetzt schon relativ weit gekommen. Wenn wir immer alles durch Neues ersetzen, vergessen wir, vergessen wir auch die Dinge, die falsch waren. Und die Dinge, die falsch waren, brauchen, glaube ich, aber auch eine gewisse Sichtbarkeit.
AWD: Ich würde mich dem voll anschließen. Ich glaube, es geht wirklich um Transformation von Tradition. Ja, und das dauert total lange und wir als Team haben gemeinsam die Kraft dazu. Seit vielen Jahren sage ich: „Kooperieren reicht nicht!“ Strategische Partnerschaften, sich hinsetzen auf der Intendanz-Ebene und einen Vertrag miteinander machen über drei Jahre und den Prozess dann aber auch wirklich auswerten. Es geht wirklich darum: Wo kann ich kleine Schritte gehen? Es gibt bei allen von uns im Alltag täglich tausende Möglichkeiten, Dinge zu ändern. Darum geht es, glaube ich.
Anmerkungen
[1] https://www.iaspm-dach.net/mission (Zugriff: 3.8.2023).
[2] Ebd.
[3] http://wp.popularmusikforschung.de/?page_id=2228#selbstverstaendnis (Zugriff: 3.8.2023).
[4] Die seit dem Jahr 2007 bestehende Brunnenpassage, eine vormalige Markthalle und Herzstück des Brunnenmarkts im 16. Wiener Gemeindebezirk, versteht sich als ein „Labor transkultureller Kunst“ (https://www.brunnenpassage.at/ [Zugriff: 19.1.2024]) und realisiert um die 400 Veranstaltungen im Jahr. Für Details siehe die Beantwortung der ersten Frage durch Wiederhold-Daryanavard.
[5] Wir danken Mira Perusich sehr herzlich für die Transkription der Podiumsdiskussion!
Zitiervorschlag
Chaker, Sarah/Huber, Michael (2024). „Vom Neben- und Miteinander in (pop)musikalischen Lebenswelten. Aktuelle Berichte aus der journalistischen, künstlerischen und veranstaltenden Praxis.“ In: „Parallelgesellschaften“ in populärer Musik? Abgrenzungen – Annäherungen – Perspektiven. Hg. v. Ralf von Appen, Sarah Chaker, Michael Huber und Sean Prieske. GFPM – Beiträge zur Popularmusikforschung 48 meets ~Vibes – The IASPM D-A-CH Series Vol. 3. Bielefeld: transcript, S. 343-359 und online: http://vibes-theseries.org/vom-neben–und-miteinander-in-(pop)musikalischen-lebenswelten/ [26.9.2024].
Cover Picture: mit KI generiert in CANVA, https://www.canva.com; © die Herausgeber*innen